Fortsetzungsroman

Die Pütte des Grauens – Teil 2

In der Zugvogeltagezeitung gibt es den ersten Teil des Kurzromans "Die Pütte des Grauens" zu lesen. Wie die spannende Begegnung zwischen einem Kiebitz und einem Wanderfalkenweibchen ausgeht, verraten wir hier:

Endlich! Sie hatte schon begonnen, an ihren Fähigkeiten zu zweifeln. Wie viele Male war sie auf den Kiebitz herabgestoßen, wie häufig war er mit einer Lässigkeit, die sie als aufreizend empfand, ihrem Angriff ausgewichen? Beinahe hätte sie aufgegeben, aber bei ihrem letzten Wendemanöver sah sie aus dem Augenwinkel, wie ihr geplantes Frühstück auf einer kleinen Insel in der Mitte der Pütte niederging und sich im Schilf zu verbergen suchte. Das eröffnete ganz neue Möglichkeiten. Sie änderte ihre Taktik, flog die Insel im Tiefflug an und hoffte auf das Überraschungsmoment. Und in der Tat machte der erschrockene Kiebitz einen panikartigen Ausfall in Richtung Wasser. Das war ihre Chance: Sie hatte ihren Flug viel besser unter Kontrolle als der verwirrte Kiebitz, und so war es ein Leichtes, ihre Fänge in das Opfer zu schlagen. Zufrieden mit sich freute sie sich nun auf eine ausgiebige Mahlzeit.

Und für die wurde es auch langsam Zeit; sie hatte seit einer gefühlten Ewigkeit keine größere Beute mehr erlegt. Etwas wehmütig dachte sie an den letzten Sommer zurück, als sie im nahen Oldenburg liebevoll und vor allem regelmäßig von ihren Eltern mit Futter versorgt wurde. Im April war sie etwa zeitgleich mit ihren drei Geschwistern, zwei Brüdern und einer Schwester, aus dem Ei geschlüpft. Richtig gemütlich war es nicht, denn wie alle Falken bauen auch Wanderfalken keine echten Nester. Dennoch, die atemberaubende Aussicht aus großer Höhe und die Vorfreude auf ihren ersten Flug hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Ihre Eltern hatten es nicht leicht gehabt. Die beiden Brüder – kleiner als die Schwestern – waren früh verhungert, weil es den Altvögeln einfach nicht gelang, genügend Beute zu machen, um vier hungrige Schnäbel zu stopfen. Sie fühlte sich ein wenig schuldig am Tod der Brüder, denn mehr als einmal hatte sie ihre bedeutendere Körpergröße eingesetzt, um an die besten Futterbrocken zu kommen. Aber mehr noch hatte sie ihren Eltern vorgeworfen, dass sie nicht in der Lage waren, die ganze Familie satt zu bekommen. So schwierig konnte es doch nicht sein, die behäbigen Stadttauben oder die ungeschickt flatternden Elstern zu erbeuten? Sie war sich sicher, dass sie und ihre Schwester es dereinst besser machen würden.

Mit dem Bewusstsein, die wahre Herrin der Lüfte zu sein, begann sie Ende Mai mit Flugversuchen. Das klappte von Anfang an ganz passabel, aber schon bei ihrem ersten Jagdausflug wurde ihr klar, dass die tumb auf der Straße pickenden Tauben ganz hervorragende Flieger waren, die sich durchaus nicht leicht erbeuten ließen. Die ersten Wochen verbrachte sie mit ihrer Schwester im Revier der Eltern, und mehr als einmal musste sie sich mit leerem Magen zur Nachtruhe begeben. Im Herbst wurde es schließlich Zeit, die bekannte städtische Umgebung zu verlassen. Ihre Eltern duldeten keine lästigen Konkurrenten mehr in ihrem Territorium. Ihre Schwester war schon ein paar Tage vorher Richtung Westen abgezogen, sie selbst wollte es im Norden versuchen. Schon bei ihren ersten längeren Ausflügen hatte sie das große Wasser gesehen, das sich unendlich Richtung Horizont erstreckte. Das weckte ihre Neugierde, und außerdem war ihr zu Ohren gekommen, dass sich im Herbst viele – sehr viele – Zugvögel an seinen Stränden aufhalten würden. Wo, wenn nicht hier, könnte eine junge Wanderfalkendame über ihren ersten Winter kommen?

Und in der Tat, der Anblick der Enten und Limikolen verschlug ihr fast den Atem. Das mussten tausende sein, die alle nur darauf warteten, das Opfer einer selbstbewussten Jägerin zu werden. Für eine Spezialistin der Luftjagd auf fliegende Beute war es doch eigentlich unmöglich, bei einem Schwarm von mehreren Hundert Alpenstrandläufern sein Ziel zu verfehlen? Aber es gelang ihr nur selten, sich in dem Gewimmel aus fliegenden Leibern auf nur einen Vogel zu konzentrieren und diesen gezielt zur Strecke zu bringen. Zu verwirrend waren die in perfekter Choreografie vorgetragenen Flugmanöver des Schwarms, zu flink die Bewegungen der einzelnen Vögel, die so viel leichter und behänder waren als sie. Schon bald gab sie die Angriffe auf einen fliegenden Schwarm auf und verlegte sich auf Überraschungsangriffe in rasendem Flug auf einzelne Individuen. Aber auch das war meist nicht erfolgreich, da ein aufmerksamer Vogel sie oft rechtzeitig bemerkte, seine Artgenossen alarmierte und sich der undurchdringliche Schwarm formierte, bevor sie zum Erfolg kommen konnte. Es war zum Verzweifeln. Sie sah sich schon inmitten zig-tausender potenzieller Beutetiere verhungern. Insgeheim bat sie ihre so hochmütig gescholtenen Eltern um Verzeihung.

Aber nach und nach wurde sie geschickter, passte auch ihre Ansprüche den Realitäten an. Statt eines fetten Knutts mussten auch mal zwei magere Wiesenpieper reichen. Das war kein Festmahl, aber eine Anzahl solcher Häppchen genügte doch, sie durch den Gott sei Dank milden Winter zu bringen.

Heute aber hatte sie es wissen wollen. Waren es die ersten warmen Sonnenstrahlen, die ihr Selbstvertrauen einflößten? Als sie sich mit schnellem Flügelschlag der Pütte näherte, wusste sie, dass sie sich heute nicht mit einer Lerche oder einem Fink zufrieden geben würde. Ein Kiebitz war das Mindeste, mit dem sie sich für ihr winterliches Jagdtraining belohnen wollte.

Und sie hatte recht behalten! Es war ein herrliches Gefühl, den Kiebitz nach anstrengender Jagd in den Fängen zu halten. Sie hatte ihn zwar noch nicht ganz fest zu packen bekommen – eigentlich hatte sie nur mit dem einen Fang einen Flügel und mit dem anderen die Federn des Rückengefieders erwischt –, aber bei nächster Gelegenheit würde sie ihre messerscharfen Krallen in den Körper ihres noch immer flatternden Opfers bohren und sein Leben beenden. Jetzt aber musste sie zunächst schnell Höhe gewinnen, um mit dem schweren Kiebitz in den Fängen nicht ins Wasser zu stürzen.

Der lästige Turmfalke war ihr schon beim Anflug an die Pütte aufgefallen. Aber was sollte ihr schmächtiger Vetter schon zu melden haben, wenn ein Wanderfalkenweibchen zur Jagd ansetzt? Sie hatte ihn nicht ernst genommen und musste nun überrascht feststellen, dass der viel kleinere Falke ihr Eindringen in sein Jagdrevier nicht klaglos hinnehmen würde. Der Turmfalke war jetzt in ihrer unmittelbaren Nähe und wagte sogar den einen oder anderen Scheinangriff. Verärgert ob dieser Unverfrorenheit und wohl wissend, dass sie mit dem Kiebitz in den Fängen keine echte Chance zur Gegenwehr hatte, flog sie in nun geringerer Höhe das Ufer der Pütte an, um sich auf einen Weidenpfahl zu setzen und sowohl die leidige Affäre mit dem Turmfalken als auch das Leben des Kiebitzes in ihren Fängen zu beenden. In ihrer Eile hatte sie übersehen, dass nicht weniger als vier Mäusebussarde bereits Pfähle besetzt hielten und - ebenso wie vorher der Turmfalke - kein Interesse an einem Eindringling und potenziellen Nahrungskonkurrenten hatten. Die Bussarde würden ihren Anflug auf einen Pfahl niemals dulden, und so entschloss sie sich, mit der noch immer flatternden Beute in ihren Fängen auf einen nahe gelegenen Hochspannungsmast zu fliegen. Erschreckt musste sie feststellen, dass auch dies nicht so einfach war, denn inzwischen wurde sie rechts wie links von je einem offensichtlich erbosten Mäusebussard flankiert, während sie der lächerliche kleine Turmfalke mit neuem Mut wiederholt mit Scheinangriffen traktierte.

Und noch immer zuckte der Kiebitz. Unter diesen Umständen war es ihr einfach nicht möglich, umzugreifen und ihre Beute fester zu packen. Sie hoffte auf einen ruhigen Moment, auf das Nachlassen des Interesses ihrer Verfolger, ihr das Leben schwer zu machen. Stattdessen musste sie feststellen, dass sie bei ihrer Flucht vor Bussarden und Turmfalke einer über der Wiese jagenden Kornweihe zu nahe gekommen war. Kornweihen waren zwar nicht sonderlich kräftig, aber ebenso wie die Bussarde ein gutes Stück größer als sie. Und diese Kornweihe war ein Gegner zu viel. Mäusebussarde von rechts und links, Turmfalke von oben und nun auch noch eine wütende Kornweihe, die sie von unten attackierte. In ihrem verzweifelten Bemühen, den anderen Greifen zu entkommen, entließ sie den todgeweihten Kiebitz aus ihren Fängen. Sie rechnete damit, dass dieser geschwächt zu Boden fiele und ihre Konkurrenten sich nun um den Lohn der Luftschlacht balgten. Zu ihrer namenlosen Verblüffung sah sie jedoch ihre gerade noch sicher geglaubte Beute laut rufend gen Himmel steigen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Immerhin hatte sie nun genug Kraft, um den sie verfolgenden Greifen zu entkommen, denn ohne Ballast war sie ihnen in puncto Geschwindigkeit haushoch überlegen.

Geschwächt, enttäuscht und sehr, sehr hungrig flog das Wanderfalkenweibchen auf die Spitze des nächsten Hochspannungsmastes, um weit weg von Kiebitzen, Bussarden, Turmfalken und Kornweihen ihre Strategie zu überdenken. Sie würde aus ihren Fehlern lernen, würde sich vorher überlegen, wo sie mit ihrer Beute sicher landen könnte, würde die Luftaufklärung nicht vernachlässigen und sich gut überlegen, ob die anvisierte Beute den Aufwand lohnte.

Sie schaute sich um. Waren das da unten nicht Wiesenpieper …?

- ENDE - 

 

Diesen Kurzroman schrieb Kai Pagenkopf nach einer wahren Beobachtung.